Ei des Kolumbus – oder Schnapsidee?

Die Reifen-Felgen-Kombination „Tweel“ kommt völlig ohne Luftdruck aus

Ruedi Baumann

Michelin bezeichnet es als „Quantensprung“ in der Reifentechnologie, räumt aber ein, dass bis zur endgültigen Serienreife noch ein Zeitraum von zehn Jahren notwendig sein wird. Anderseits ist die bisherige Entwicklung von Fahrzeugreifen gewissermassen in einem festgefahrenen Gleis gelandet. Ausgehend von den Vollgummireifen der Anfänge benutzte man seither lediglich das Medium Luft als Federelement zwischen Radfelge und Untergrund.

Gegen Ende des zweiten Weltkrieges gelangten infolge der Rohgummiknappheit diverse, teils sehr abenteuerliche Konstruktionen zur Anwendung. Eine Kombination, sie bestand aus einzelnen Aluminiumplatten (oder Vollgummielementen) mit vielen kleinen Schraubenfedern zwischen Mantel und Felge, erinnert lustigerweise an die „epochale“ Neuentwicklung von Michelin. Zumal auch dort Radfelge, Federelemente und Lauffläche eine untrennbare Einheit darstellten. Seit der Erfindung des luftgefüllten Reifens hat sich die Entwicklung indessen lediglich im Rahmen von Modifikationen bezüglich Reifenaufbau und Gummimischung bewegt.

Ulkig schaut die Neuheit von Michelin schon aus. Weil die Reifen von der Seite her besehen praktisch durchsichtig sind, scheint ein damit ausgerüstetes Auto regelrecht in der Luft zu schweben. Folglich sind auch rein ästhetische Hindernisse zu überwinden, hat man sich doch im Laufe von über einem Jahrhundert an das komplexe Bild von Fahrzeug-Felge-Gummireifen gewöhnt. Wahrscheinlich lauert der Teufel für Michelin noch im Detail. Wir denken da beispielsweise an Eigengeräusche infolge des durchgehenden „Klangkörpers“. Sowie an Probleme bei Dreck und Schnee. In Kurven agiert ein seitlich offener Reifen als Drecksammler, ähnlich wie eine Raupenkette. Geschossartig herumfliegende Steine dürften nicht unbedingt in Sinne des Erfinders sein.

Michelin prognostiziert beim „Tweel“ an Personenwagen eine Laufleistung von ca. 30'000 Kilometern, dann aber müssen sowohl Reifen wie Felgen (sie sind eine untrennbare Einheit) ersetzt werden. Allerdings dürfen hierbei nicht die jetzigen Preise von Leichtmetallfelgen plus Reifen gelten. Bei den entsprechenden Stückzahlen sollte die gesamte Tweel-Einheit weniger kosten als ein heutiger Neureifen.

Die zukunftsweisende Kombination aus Reifen und Rad (engl. tyre = Reifen, wheel = Rad) in einem Bauteil kommt völlig ohne Luftdruck aus. Die Feder- und Dämpfungswirkung der Luft übernehmen beim Michelin Tweel hochflexible Speichen. Sie verbinden die Lauffläche aus Gummi mit der integrierten Leichtmetallfelge, federn Fahrbahnunebenheiten ab und tragen das Fahrzeuggewicht.

Tweel wiegt nur fünf Prozent einer herkömmlichen Rad-Reifen-Kombination. Auch der Rollwiderstand konnte gegenüber einem klassisch bereiften PKW signifikant reduziert werden. Dies spart nicht nur Treibstoff: Auch bei der Fahrwerksabstimmung eröffnet die Rad-Reifen-Kombination ganz neue Möglichkeiten. Bei dem zukunftsweisenden System kann die Steifigkeit des Reifens in vertikaler und in horizontaler Richtung erstmals unabhängig voneinander abgestimmt werden. Resultat: Die Seitenführungskraft liegt beim Michelin Tweel wesentlich höher als bei einem handelsüblichen Luftreifen – was Handling, Kurvengeschwindigkeit und Fahrstabilität erheblich verbessert. Dabei steht der Michelin Tweel einem Luftreifen in punkto Fahrkomfort, Belastbarkeit und Federungskomfort nicht nach.

Weltweite Anwendung in unterschiedlichen Bereichen

Über das Prototypenstadium ist der Michelin Tweel bereits hinaus: Tweel wird beispielsweise in Kleinserie von einem amerikanischen Rollstuhlhersteller eingesetzt und ermöglicht gehbehinderten Menschen damit das problemlose Treppensteigen. Darüber hinaus entwickelt Michelin derzeit die luftlosen Reifen für verschiedene Spezialfahrzeuge des Katastrophenschutzes.
 

 


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