Ei des Kolumbus – oder Schnapsidee?
Die Reifen-Felgen-Kombination „Tweel“ kommt völlig ohne Luftdruck aus
Ruedi Baumann
Gegen
Ende des zweiten Weltkrieges gelangten infolge der Rohgummiknappheit diverse,
teils sehr abenteuerliche Konstruktionen zur Anwendung. Eine Kombination, sie
bestand aus einzelnen Aluminiumplatten (oder Vollgummielementen) mit vielen
kleinen Schraubenfedern zwischen Mantel und Felge, erinnert lustigerweise an die
„epochale“ Neuentwicklung von Michelin. Zumal auch dort Radfelge, Federelemente
und Lauffläche eine untrennbare Einheit darstellten. Seit der Erfindung des
luftgefüllten Reifens hat sich die Entwicklung indessen lediglich im Rahmen von
Modifikationen bezüglich Reifenaufbau und Gummimischung bewegt.
Ulkig schaut die Neuheit von Michelin schon aus. Weil die Reifen von der Seite
her besehen praktisch durchsichtig sind, scheint ein damit ausgerüstetes Auto
regelrecht in der Luft zu schweben. Folglich sind auch rein ästhetische
Hindernisse zu überwinden, hat man sich doch im Laufe von über einem Jahrhundert
an das komplexe Bild von Fahrzeug-Felge-Gummireifen gewöhnt. Wahrscheinlich
lauert der Teufel für Michelin noch im Detail. Wir denken da beispielsweise an
Eigengeräusche infolge des durchgehenden „Klangkörpers“. Sowie an Probleme bei
Dreck und Schnee. In Kurven agiert ein seitlich offener Reifen als Drecksammler,
ähnlich wie eine Raupenkette. Geschossartig herumfliegende Steine dürften nicht
unbedingt in Sinne des Erfinders sein.
Michelin prognostiziert beim „Tweel“ an Personenwagen eine Laufleistung von ca.
30'000 Kilometern, dann aber müssen sowohl Reifen wie Felgen (sie sind eine
untrennbare Einheit) ersetzt werden. Allerdings dürfen hierbei nicht die
jetzigen Preise von Leichtmetallfelgen plus Reifen gelten. Bei den
entsprechenden Stückzahlen sollte die gesamte Tweel-Einheit weniger kosten als
ein heutiger Neureifen.
Die zukunftsweisende Kombination aus Reifen und Rad (engl. tyre = Reifen, wheel
= Rad) in einem Bauteil kommt völlig ohne Luftdruck aus. Die Feder- und
Dämpfungswirkung der Luft übernehmen beim Michelin Tweel hochflexible Speichen.
Sie verbinden die Lauffläche aus Gummi mit der integrierten Leichtmetallfelge,
federn Fahrbahnunebenheiten ab und tragen das Fahrzeuggewicht.
Tweel wiegt nur fünf Prozent einer herkömmlichen Rad-Reifen-Kombination. Auch
der Rollwiderstand konnte gegenüber einem klassisch bereiften PKW signifikant
reduziert werden. Dies spart nicht nur Treibstoff: Auch bei der
Fahrwerksabstimmung eröffnet die Rad-Reifen-Kombination ganz neue Möglichkeiten.
Bei dem zukunftsweisenden System kann die Steifigkeit des Reifens in vertikaler
und in horizontaler Richtung erstmals unabhängig voneinander abgestimmt werden.
Resultat: Die Seitenführungskraft liegt beim Michelin Tweel wesentlich höher als
bei einem handelsüblichen Luftreifen – was Handling, Kurvengeschwindigkeit und
Fahrstabilität erheblich verbessert. Dabei steht der Michelin Tweel einem
Luftreifen in punkto Fahrkomfort, Belastbarkeit und Federungskomfort nicht nach.
Weltweite Anwendung in unterschiedlichen Bereichen
Über das Prototypenstadium ist der Michelin Tweel bereits hinaus: Tweel wird
beispielsweise in Kleinserie von einem amerikanischen Rollstuhlhersteller
eingesetzt und ermöglicht gehbehinderten Menschen damit das problemlose
Treppensteigen. Darüber hinaus entwickelt Michelin derzeit die luftlosen Reifen
für verschiedene Spezialfahrzeuge des Katastrophenschutzes.
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